Mathias Spahlinger (*1944)
und als wir, for 54 strings (1993)
00:00 Teil 1
05:10 Teil 2
09:22 Teil 3
SWF Sinfonieorchester Baden-Baden
Lothar Zagrosek, conductor
World Première, 17 October 1993, Donaueschinger Musiktage ’93
das phänomen der wechselseitigen abhängigkeit der räumlichen und zeitlichen eigenschaften und der lautstärke von klang ist sattsam bekannt aus der stereo-technik. ein signal, von zwei verschiedenen schallquellen unterschiedlich laut oder zeitlich leicht versetzt abgestrahlt, scheint mehr aus der richtung zu kommen, aus der es früher oder stärker zu hören ist oder es wird, bei gleichlautem und gleichzeitigem hören, in der mitte lokalisiert. aber nicht die illusion der phantomschallquelle (instrumental oder live, unter den reflexionsbedingungen in realem raum ohnehin nur sehr unvollkommen möglich), sondern die art und weise des zustandekommens solcher wahrnehmungstäuschungen ist thema und problemstellung dieses stücks, damit der soziale, interkommunikative charakter von wirklichkeit: in der patitur gleichzeitig und gleichlaut notiertes wird, je nach verteilung im raum, von immer einem anderen, einem einzigen hörer gleichzeitig und gleichlaut vernommen; zeitlich und in der lautstärke leicht verschiedenes, je nach position des hörers noch mehr getrennt oder zur gleichzeitigkeit zusammengefasst. alle kompositorischen verfahren des stückes möchten die erfahrung ermöglichen, dass, was der einzelne dafür halten möchte, nicht die ganze wirklichkeit ausmacht, will hörbar machen, daß jeder andere anderes hört.
die aufstellung der musiker ermöglicht in der einfachsten weise (die aber fast immer modifiziert wurde) die korrespondenz von vier orchestern über kreuz (abb. 1), von vier orchestern in räumlicher tiefenstaffekung (abb. 2), elliptische bewegungen zwischen gleichen orchestergruppen (abb. 3) und gemeinsame bewegungsrichtung des gesamtorchesters.
die drei teile des stückes, die ohne pause ineinander übergehen, behandeln jeweils wenige aspekte des raum-zeit-problems bevorzugt. im ersten teil war eines meiner hauptinteressen, die räumliche in konkurrenz zur zeitlichen nähe treten zu lassen; schwärme von punktuellen ereignissen können, wenn sie zwar langsamer, aber räumlich beieinander, oder wenn sie schneller, jedoch in größerer entfernung aufeinanderfolgen, zu feldern oder scheinmelodischen vorgängen zusammengefasst werden. des weiteren spielen hier ausschwingvorgänge von pizzikati, deren unterschiedliche dauern als raumbewegung wirken, eine rolle. meine besondere aufmerksamkeit galt hierbei gewissen überraschenden räumlichen veränderungen, die dadurch möglich sind, dass die dauern nicht direkt von lautstärke und tonhöhe abhängen, sondern ebenso von saitenlänge und griffweise.
im zweiten teil steht das problem der ausführbarkeit und wahrnehmbarkeit regelmäßiger pulse im vordergrund, welche beeinflusst und irritiert wird durch andere regelmäßige pulse, durch sprünge im raum, durch unterschiedlich weite intervalle, durch ein schwieriges verhältnis der pulse zum grundzeitmaß, durch leichte bis größere abweichungen in der pulsfolge selber, auch bei regelmäßiger bewegung im raum, die dadurch ihrerseits unregelmäßig scheint. bis zu 31 verschiedene tempi kommen in allen ordnungsgraden vor, von völlig im raum und den tonhöhen nach durchmischt bis sortiert: tempi nach tonhöhenregistern, nach fixierten oder langsam bewegten positionen im raum, darin prozesse der verdeutlichung und verunklarung, alle grade der räumlichen entfernung oder fixierung, oder so viele töne, wie tempi, so viele akkorde, wie tempi (mit gemeinsamen tönen, die als raumsprünge wirken) usw. usw. hier wie überall in diesem stück soll, neben allen graden der komponierbaren abweichung auch der bereich der nicht mehr notierbaren, nicht mehr ausführbaren aber hörbaren differenzierung berührt werden; wirkliche regelmäßigkeit war nur in einem und durch ein sie als gemeint beweglich interpretierendes metrum möglich.
im dritten und letzten teil steht die illusion einer gleichbleibenden bewegungsrichtung (abb. 4) alles klingenden im vordergrund. dabei sind geschwindigkeit im raum und musikalisches tempo entkoppelt. auch ereignisse, die objektiv keine raumzeitlich gerichtete abfolge haben, geraten in den sog dieses kontextes und scheinen in bewegung. dazwischen gibt es alle grade von deutlichkeit der abfolge im raum, je nach dem, wieviele eigenschaften eines klanges an anderer stelle quasi imitatorisch gleichbleiben. schließlich kommt ein klang durch beschleunigung seiner abfolge im raum zum stillstand und die bewegung geht auch an sein negativ-bild, an pausen über.
Photo by Kai Bienert
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